Hochsensible Menschen sind feinfühliger, einfühlsamer und reizempfindlicher. Das reizüberflutete Nervensystem ist demzufolge schneller erschöpft als bei „normal“ sensiblen Menschen.

Ö1 Radiokolleg zum Thema am 18.6.2018 u.a. ein Interview mit Lisa Tomaschek-Habrina

 

Was ist Hochsensibilität?

Hochsensible Menschen (HSM) haben viele Stärken. Sie sehen vieles genauer, sie erleben vieles gründlicher, fühlen vieles tiefer und verstehen vieles sorgfältiger. Im Allgemeinen sind sie hellhöriger, tiefgründiger und hellsichtiger. (vgl. Ruthe 2015, S. 35). Hochsensibilität ist jedoch nach Elaine Arons keine Krankheit oder psychische Störung, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal, welches genetisch veranlagt ist (vgl. Schorr 2014 a, S. 10).

Anderer Gehirnstoffwechsel

Der Gehirnstoffwechsel von HSM scheint anders zu funktionieren als bei Normalsensiblen. Es wird vermutet, dass ein durchlässigerer Wahrnehmungsfilter des Nervensystems dahinter steckt. Bei der Wahrnehmungsverarbeitung werden erheblich mehr Informationen aufgenommen. Das sensitivere und empfindlichere Nervensystem hat eine höhere Hirnaktivität und ist demzufolge wesentlich schneller erschöpft als bei “normal” sensiblen Menschen (vgl. Nasitta und Westpfahl, S. 35 f.). Mittels bildgebender Verfahren sichtbar gemacht, reagieren die Regionen des Neokortex, die mit Aufmerksamkeit und der Verarbeitung von Sinnesdaten gekoppelt sind, bei HSM hochaktiv auf jede Art von Stimulierung. Auch die Regionen, die auf Belohnungen oder aber auf Angstauslöser spezialisiert sind, sprechen bei Hochsensiblen intensiver an als bei anderen Menschen an.” (Reinhardt und Wolf 2015, S. 21).

Hochsensibilität und Erschöpfung

HSM haben mehr biochemische Botenstoffe, die so genannten Neurotransmitter. Diese übertragen die Erregung einer Nervenzelle auf die andere an chemische Synapsen (Rezeptoren). Hochsensible sind damit ständig zur Reizaufnahme bereit und warten tendenziell ständig auf einen geistigen Einsatz. Dadurch wird das Stresshormon Adrenalin ausgeschüttet und ist als Noradrenalin im Blut in ungleich höheren Mengen als bei Normalsensiblen vorhanden. Da dieser Zustand der ständigen Aufnahmebereitschaft nur selten abebbt, kann er von den Betroffenen als Dauerstress empfunden werden, was wiederum zur Ausschüttung des Stresshormons Cortisol führen kann. Durch diesen inneren Stress ist dauerhaft mehr Cortisol im Blut, was für die Gesundheit der Betroffenen schädlich sein kann. Erhöhte Infektionsanfälligkeit, Essstörungen, Vergesslichkeit, Bluthochdruck, Knochen- und Knorpelabbau sind einige körperliche Störungen, an denen man durch einen dauerhaft erhöhten Cortisolwert erkranken kann. Der Kreislauf wird also stark belastet und das Immunsystem kann geschwächt werden. Ähnliche Symptome finden wir bei Burnout-Betroffenen durch die Dauerbelastung des Organismus.

Unterschiede zu „normal“ sensiblen Menschen

Es gibt eindeutige Merkmale, die eine hochsensible Person kennzeichnen. Brigitte Schorr nennt vier Kriterien, die eine HSM ausmachen. (vgl. Schorr 2014 b, S. 24 f.).

  • schmale Komfortzone
  • Neigung zur Überstimulation
  • langes Nachhallen
  • stark ausgeprägte individuelle Wahrnehmungsfähigkeit

Die schmale Komfortzone der Betroffenen ist deutlich kleiner als bei normalsensiblen Menschen. Außerhalb dieser Komfortzone gibt es die Langeweile, also ein Zuwenig an Reizen oder die Überstimulation. Es bedarf einer hohen Aufmerksamkeit für das eigene Befinden, um eine stimmige Balance zwischen diesem Zuwenig und Zuviel zu finden.

Unter Überstimulation versteht man einen Zustand, in dem einem alles zu viel wird, man nervös wird und einem die einfachsten Aufgaben des Alltags schwerfallen. Folgen starker Überstimulation können Gereiztheit in verschiedenen Reaktionen und unklares Denken sein.

Langes Nachhallen. Alles was die HSM erlebt, wirkt lange in ihr nach. Man kann sich den Organismus wie einen Speicher vorstellen, der alles Gesehene, Gehörte und Erlebte sammelt und dieses mitunter wochenlang im Kopf verbleibt bis es verarbeitet ist. Dabei geht viel Energie verloren, weil sich die innere Gedanken- und Gefühlswelt lange mit einem Thema oder auch Sorgen auseinandersetzt.

Stark ausgeprägte individuelle Wahrnehmungsfähigkeit. Jeder Hochsensible kann etwas anderes besonders stark wahrnehmen. Es geht dabei um die Bereiche Geruch, Berührungen, Farben und Gestaltung, Geräusche und Stimmungen.

Zusammenhang mit Burnout

HSM sind durch ihre Ausprägungen und Fähigkeiten Menschen, die leicht über ihre Grenzen gehen. Ihre Empathie macht sie häufig zu Beziehungsmenschen und Lastenträgern. Sie erspüren beim Betreten eines Raumes atmosphärische Stimmungen, worauf oftmals ein Streben nach Harmonie resultiert. Sie neigen im kognitiven Bereich zum Tüfteln und Zerdenken, und brauchen dafür oft mehr Energie als andere. Ihre Reizempfindlichkeit gg. Geräuschen, Gerüchen u.a. Sinneseindrücken lässt sie früher an ihre Grenzen stoßen und können generelles körperliches Unwohlsein verursachen.

Antriebsdynamiken zur Erschöpfung

HSM nutzen ihre hochsensiblen Fähigkeiten selten für ihre eigene Bedürfnislage, sondern stellen sie häufig in den Dienst anderer. Antriebsdynamiken wie „Ich muss es allen recht machen!“, „Ich muss es perfekt machen!“, „Ich muss durchhalten!“ und ähnliche haben sie mit einigen Burnout-Betroffenen gemein. Hinzu kommt jedoch die sensiblere Wahrnehmungsverarbeitung, die u.a. zu einem Cortisolanstieg im Blut führt – ein Umstand, den wir auch bei dauergestressten Burnout-Klienten beobachten können.

Begleitung von Hochsensiblen mit Erschöpfungstendenzen

Anhaltender Stress und dauerhafte Überstimulation sind damit ein zu vermeidender Faktor für HSM. Schnell und oftmals unüberlegt werden von Ärzten bei körperlichen Symptomen einer Depression beispielsweise Beruhigungsmittel und Antidepressiva verschrieben. Für eine nötige Stabilität um den Alltag zu meistern, sind sie sicherlich hilfreich. Dennoch sollte bedacht werden, dass die Veranlagung der Hochsensibilität bei der Diagnose meist nicht bekannt war oder bedacht wurde. Neben einer Krisenintervention scheint deshalb wichtig, langfristige Bewältigungsstrategien wie Beratung oder Therapie anzugehen, anstelle von medikamentöser Dauerruhigstellung. Viel wichtiger ist, sich als Betroffener einzugestehen, dass man eine andere Reizverarbeitung als Otto Normalverbraucher besitzt, und deshalb auch auf seine Umwelt im wahrsten Sinne des Wortes hochsensibel und damit oft auch erschöpfter und „übereizter“ reagiert.

Tipps für Hochsensible im Umgang mit sich selbst

Deshalb ist um so wichtiger sich dieser eben anderen Bedürfnislage anzupassen und dementsprechend vorsorgend zu reagieren.

  • Wahrnehmung für eigene Warnsignale der Reizüberflutung kennenlernen und entsprechend für Entlastung sorgen durch BEEP-Faktoren. (BEEP steht für Bewegung-Entspannung-Ernährung-Psychohygiene) Lernen Sie Ihre Instinkte entsprechend gesundheitsförderlich zu deuten – lernen sie Körpersignale als innere „Grenzwachen“

vor vorzeitiger Erschöpfung zu schätzen.

  • Sorgen Sie dafür, dass Sie genug Zeit für sich allein bekommen. Die meisten HSM brauchen Auszeiten und Rückzugsmöglichkeiten, bevor sie sich wieder unter Menschen begeben. Meiden Sie gegebenenfalls auch größere Menschenmengen oder sorgen Sie zumindest anschließend wieder für Ausgleich und Besinnung auf sich selbst.
  • Pausenmanagement erarbeiten, lieber kleinere und kürzere Einheiten mit 5-10 Minuten Pause zwischendurch, als längere Arbeitseinheiten durchziehen
  • Sorgen Sie für ausreichend Regenerationszeiten – und vermeiden Sie sich mit anderen zu vergleichen. HSM haben eben ein höheres Regenerationsbedürfnis als weniger sensible Menschen.
  • Erarbeiten Sie sich Rituale, die Ihnen hilfreich sind, den Tag zu strukturieren. u.a. z.B. Morgenmeditation, Nachmittagskakao oder abendliche Dehnungsübungen um herunter zu fahren.
  • Großraumbüros sind aufgrund der Reizüberflutung wahrscheinlich nicht die hilfreichste Arbeitsumgebung
  • Viele HSM tun sich mit Veränderungen schwer, weil jede Veränderung ein Verlust ist oder die gewohnte Sicherheit und Routine bedroht. Veränderung bedeutet auch eine Vielfalt neuer Reize, die verarbeitet werden wollen. Gehen Sie deshalb nach Möglichkeit Veränderungen schrittweise an.
  • Arbeiten sie an ihren inneren Antreibern wie z.B. „Ich muss es allen recht machen!“, ich darf nicht schlapp machen!“ und erlauben sie sich gnädiger mit sich selbst zu sein. Behandeln sie sich selbst, wie sie oftmals ihre nächste Umgebung unterstützen, und „verlernen“ sie die innere Strenge mit sich selbst.
  • Vertrauen Sie auf Ihre Gaben, Talente und Stärken, machen Sie sich diese bewusst und nutzen Sie sie für ihre Berufung.
  • HSM besitzen ein hohes Einfühlungs-Vermögen. Der Nachteil ist, dass Sie dadurch schnell Gefahr laufen, das eigene Ich und die eigenen Interessen aus den Augen zu verlieren. Lernen Sie, sich abzugrenzen und auch einmal „Nein“ zu sagen. Lernen Sie zu differenzieren: Was sind wirklich Ihre Gefühle und Ihre Gedanken? Was wollen Sie – und was sind die Wünsche, Gefühle und Gedanken des anderen?

 

Begleitung bei Hochsensibilität:

Dr. Lisa Tomaschek-Habrina, MSc

+436763403461

l.tomaschek@esba.eu

Literatur und Links:

Elaine N. Aron, Sind Sie hochsensibel

Elaine N. Aron

Hochsensible Gratwanderung

Selbsthilfe für hochsensible Menschen